Musenselig Sirenenberauscht

Verborgene Gärten der Sehnenden Lust

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Die Angst eines Gehängten

© 22. Mai 2014 von Tsaphyre Ziegenfuß

Es kostet den Gehängten unglaublich viel Überwindung, sich in seine Gefühle sinken zu lassen und wirklich am ganzen Leib zu spüren, in welcher Situation er sich befindet. Und sicherlich kann er dies oft auch nicht mal eben einfach so, sondern muß sich sehr langsam und behutsam herantasten und viele Hindernisse überwinden. Er ist eine besonders mutige Ziege, die sich ausnahmsweise einmal nicht durch einen Sprung aus ihrer mißlichen Lage retten kann, auch wenn „Zur Not springe ich“ ansonsten der Ziegenleitspruch schlechthin ist.

Da für mein Inneres Gehängter und Eremit sehr eng zusammenhängen, ist es nicht verwunderlich, daß sich die Träume oft Nacht für Nacht abwechseln zwischen den beiden, um in derselben Thematik ihre unterschiedlichen Facetten zu kosten wie einen bunten Mischsalat aus allerlei leckeren Kräutern. In der Nacht, bevor ein Aspekt meines Eremiten mit Highspeed durch die Reifeprüfung rasselte, begegnet ich einem Aspekt des Gehängten, der sich zur Zeit ebenfalls aus dem Umfeld des bereits erwähnten indischen Gurus herausschält. Wenn Träume aufräumen, dann tun sie es richtig. Es ist ihnen wichtig, noch die allerletzten Ressourcen aus einem längst verarbeiteten Thema hervorzukitzeln. Wobei es hier wohl nicht so sehr darum geht, vergangene Dinge weiter aufzuarbeiten, sondern das Neue und Aufregende darin zu entdecken.

Ich war in Indien zu Besuch bei Pedro – ich darf ihn wohl beim Namen nennen, um nicht immer von ‚dem Guru‘ schreiben zu müssen. Ich befand mich in einem dunklen Raum zusammen mit einer Dalit, die für Pedros Familie putzte. Nebenan saß Pedro mit zahlreichen Schülern. Er ignorierte mich als jemanden, den er als Abtrünnige betrachtete, mit der er ganz gewiß keine Blicke oder gar Worte wechseln würde. Doch seine Schüler luden mich ein, mit ihnen zusammen dem Satsang des Meisters beizuwohnen und gemeinsam zu frühstücken. Ich lehnte dankend ab und begab mich wieder in den dunklen Flur, wo ich lieber mit der Dalit frühstücken wollte.

Sie hatte inzwischen ihre Arbeit angetreten, aber ihr Mann war da und teilte mit mir sein Essen. Ich betrachte ihn durchaus als einen Aspekt von Pedro, wie er sich in meinem Inneren gebildet hat, nämlich als den Aspekt, den er verachtet und für unberührbar hält. Plötzlich kam ein mysteriöser Wind in dem Flur auf, wie die Strumböen vor einem Gewitter. Es war eine dichte, phantastische Atmosphäre und die Zeit schien sich zu verlangsamen und dem Moment alle Kraft zu schenken. Auch der Wind wurde dadurch unglaublich präsent und langsam, er schien die Schwerkraft aufzuheben und plötzlich schwebten all die geweinten Tränen der Dalit vom Boden empor und füllten in einzelnen, glänzenden Tropfen die Luft. Und auch ein vollgeweintes Taschentuch hob sich  in die Höhe, so als befänden wir uns im Weltall.

Die Atmosphäre wurde noch dichter, ich konnte die unglaubliche Gefühlskraft spüren, die wie Ätherschlieren waberte. So faszinierend das für mich war, so beängstigend schien es für den Dalit zu sein. Er schrie auf und zog eine Decke über uns. Er sagte: „Ich habe das schon einmal erlebt! Jetzt kommt die Aura Aurora, das Irisierende Licht. Schau nicht hin, es ist so schrecklich!“ Durch eine offene Falte der Decke konnte ich tatsächlich den Widerschein von wunderschönem Licht an der Wand sehen, das seine Farbe immer wieder wechselte, mal rot, mal orange, dann blau. Aber da er sich so fürchtete, fürchtete ich mich auch und ich stellte mir vor, daß fahle, gespenstische Schreckgestalten in dem Licht tanzten. Als ich ihn danach fragte, war er nur noch ein zitterndes Häufchen Elend: „Nein, es sind keine Gespenster. Es ist ein Auge!“

Da wußte ich mit einem Schlag, was das für ein Auge war, und meine Neugierde war geweckt. Ich versuchte, ihn zu beruhigen: „Das ist das liebende Auge von Seele! Davor mußt du dich nicht fürchten!“ Aber er schrie nur noch „Can’t unsee! Can’t unsee!“ Da überwog meine eigene Angst doch meine Neugierde und ich schaute lieber nicht hin – was ich schon im Aufwachen zutiefst bedauerte.

Diesem Mann, diesem von Pedro Verstoßenen, war es gelungen, sich mit seinem tiefen Gefühl und seinen Tränen zu verbinden und den Kontakt zu Seele herzustellen. Und in Gegenwart von Seele verloren seine Tränen ihre niederdrückende Schwere. Dennoch wagte er es nicht hinzuschauen. Ich weiß nicht, was er bei seinem ersten Seelenkontakt in dem Auge gesehen hat, aber es muß für ihn ein erschütterndes Erlebnise gewesen sein, dem sich zu stellen er noch nicht bereit war. Ich könnte mir vorstellen, daß Pedros Religiosität diesem Mann, der ein Aspekt von ihm ist, nur eine Perspektive gewähren konnte: daß er dem strafenden Auge Gottes begegnet, das ihn jetzt in seiner ganzen Abtrünnigkeit und in seinem Ungehorsam Pedro gegenüber zur Rede stellt. Was für ein schmerzvolles Mißverständnis!

Tasphyre Ziegenfuß

Stichworte: Epik, Traum Kommentar verfassen

Über Tsaphyre

Tsaphyre Ziegenfuß, eine stets muntere Ziege, die mit ihren hellblauen Plüschrollschuhen durch die Welt saust, liebt es, von allen Kräutern und Blumen der Wiese ein bißchen zu naschen und sich von den unterschiedlichsten Geschmackserfahrungen in ihren bunten Träumen und Ideen inspirieren zu lassen. Auf Rosenbüschen kaut sie besonders gerne herum, läßt allerdings die Rosen auf ihrem Balkon lieber stehen. Gerne erzählt sie in meckerndem Plauderton von ihren Gedanken, Gefühlen und Plänen.

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